Sozialhilfe «Diese widerliche Inszenierung von Wohltätigkeit»
«Diese widerliche Inszenierung von Wohltätigkeit»
Auszug aus dem Artikel in der WOZ Nr. 45/2020 vom 05.11.2020
Interview: Adrian Riklin. Foto: Magali Girardin
«Das Grundübel ist, dass Sozialhilfe mit Zwang und Diskriminierung verbunden ist»
Véréna Keller im Genfer Stadthaus, dem Sitz des Kantonsparlaments
Bräuchte es da nicht ein grundlegend neues Konzept der Sozialhilfe?
Man müsste die bisherige Sozialhilfe in eine allgemeine Existenzsicherung überführen nach der Logik der Ergänzungsleistungen – und damit auch mit dieser elenden Kategorisierung der Armen je nach Grund ihrer Bedürftigkeit aufhören: Arbeitslosigkeit, Mutterschaft, Krankheit, Papierlosigkeit, Flucht [vgl. «Existenzsicherung für alle» im Anschluss an diesen Text]. Die jetzige Sozialhilfe ist aufwendig, ungerecht, selektiv und kompliziert.
Uralte Stereotypisierung
Ältere Menschen und sich konform verhaltende Mütter gelten tendenziell als «gute Arme» – und Junge, bei denen man fürchtet, dass sie bis 65 in der Sozialhilfe bleiben, oder auch Ausländer als «schlechte Arme». Es geht darum, dass all jene, die als arbeitsfähig eingestuft werden, auch wirklich arbeiten gehen. «Arbeit» meint in diesem Zusammenhang immer nur «Lohnarbeit»
Müssten solche Angebote nicht niederschwelliger sein?
Was heisst denn niederschwellig? Es scheint mir manchmal, dahinter stecke ein verborgener paternalistischer Anspruch, wie wenn alle Leute psychologische, sozialarbeiterische oder pädagogische Begleitung bräuchten und man sie manchmal dazu zwingen müsste. Mit Niederschwelligkeit kann ausserdem eine gewisse Entprofessionalisierung einhergehen. Es sind dann eben oft Freiwillige oder wenig ausgebildetes Personal, das sich in gesonderten Einrichtungen – etwa bei der Essensverteilung oder in Notunterkünften – um «die Schwächsten» und «Prekärsten» kümmert und minimale Leistungen verteilt. Meine Vorstellung von demokratisierter Hilfe ist anders.
Wie denn?
Eher materialistisch und egalitär: Zwingend nötig sind günstiger Wohnraum für alle, ein existenzsicherndes Grundeinkommen sowie kostenlose medizinische Pflege. Das ist niederschwellig! Vergleichen Sie doch mal die Behandlung einer Person, die auf Sozialhilfe angewiesen ist, mit mir als Versicherter: Wenn ich einen Wasserschaden habe, kommt es niemandem in den Sinn, mir eine psychologische Beratung vorzuschlagen. Und auch meine Pensionskasse verpflichtet mich nicht dazu, über meine allfälligen Ängste im Alter zu reden. Wenn ich Hilfe möchte, hole ich sie mir als freie Bürgerin. Im Gegensatz dazu müssen sich die Armen beraten lassen, und das bedeutet eben oft: sich unterordnen, kontrollieren, normalisieren und moralisieren lassen. Damit wird Armut individualisiert. Dabei ist sie ein eminent politisches Problem.
Véréna Keller
Die 68-jährige Sozialarbeiterin und Erziehungswissenschaftlerin ist emeritierte Professorin und Fachbereichsleiterin an der Hochschule für Soziale Arbeit in Lausanne und ehemalige Vizepräsidentin von Avenir Social, dem Berufsverband Soziale Arbeit Schweiz. Sie lebt in Genf. Die Neuauflage ihrer «Chronologie des Umbaus der Sozialhilfe 2000 bis 2020» erscheint Anfang 2021 auf der Website von Avenir Social.